Standpunkt

Presseanfrage zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes:

Hier unsere Antworten:

Sehr geehrter Herr Pöhland,

ich möchte Ihnen wie folgt antworten:
Wie schätzen Sie die Entscheidung des Hauptausschusses ein? Halten Sie die Entscheidung für richtig oder falsch? Warum?
Unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten halten wir diese Entscheidung für richtig. Bei einem Minus von 29 Millionen (FP vom 18.12.2020) sind alle freiwilligen Leistungen auf dringende Notwendigkeit zu prüfen. Es handelt bei der 1/2 Stelle weder um eine Pflichtaufgabe der Verwaltung zur Daseinsvorsorge, noch um eine freiwillige Leistung zur Unterstützung der Zwickauer Kinder und Jugendlichen, noch für die Zwickauer Bürgerschaft. Außerdem ist die Stelle weder durch Verwaltungsauftrag oder einen Stadtratsbeschluss veranlasst.
Die Oberbürgermeisterin bittet darum, die Ablehnung der Stelle noch einmal zu überdenken. Werden Sie dieser Bitte Folge leisten? Wenn ja, inwiefern?
Ein Überdenken der Entscheidung des Ausschusses wird unter rein haushaltspolitischen Aspekten erfolgen. Ideologische und politische Gesichtspunkte, wie von Herrn Stellner in seinem Artikel unter der Überschrift „ Rückschlag für Gedenken an NSU – Opfer“ unterschwellig ins Spiel gebracht, sind an dieser Stelle fehl am Platze.
Menschen aus der ganzen Bundesrepublik haben durch vielfältige Aktivitäten und hohe finanzielle Aufwendungen in beispielhafter Art und Weise eine Erinnerungs- und Gedenkkultur zu diesem Thema etabliert. Diese wird von der Bürgerschaft in Zwickau und verschiedensten Initiativen, Parteien, Vereinen und Organisationen weitergeführt. Das Engagement bündelt sich z.B. im Zwickauer „Bündnis für Demokratie und Toleranz“, dem auch wir angehören, welches die Stadt unter anderem mit der Finanzierung von Stellen im Koordinierungsbüro im Alten Gasometer unterstützt.
Wie sollte aus Ihrer Sicht das Gedenken anlässlich des zehnten Jahrestages der NSU-Enttarnung im November gestaltet werden? Welche Rolle sollte die Stadtverwaltung dabei spielen?
Wir halten es grundsätzlich für falsch, die Täter in ihrer selbstgewählten Bezeichnung (NSU) zu nennen. Darüber hinaus kann auch nicht von einer Selbstenttarnung die Rede sein. Vielmehr handelte es sich bei dem, was am 04.11.2011 passiert ist, um die Umsetzung einer Verabredung für den Fall, dass man bei der Ausübung seiner Verbrechen irgendwann einmal auffliegt. Es war das Ende einer beispiellosen Verbrechensabfolge, die bis zum heutigen Tage nicht restlos aufgeklärt wurde. Die  Wiederkehr dieses Datums sollte die Zivilgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland dafür nutzen, alljährlich von den Ermittlungsbehörden und Geheimdienste eine vollständige Aufklärung der Umstände der begangenen Taten zu fordern. Schließlich besitzen die Akten den Verschlussvermerk „ 120 Jahre“. Damit haben die Behörden der Bundesrepublik Deutschland für sich einen Schlussstrich unter die  Vorgänge gezogen. Dies lehnen wir strikt ab. Gerade in Zeiten, in denen z.B. bei Polizei und Bundeswehr rechte Netzwerke öffentlich werden und die Feinde unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung aus dem linken und rechten Lager immer offener und unverblümter auftreten, ist äußerste Wachsamkeit der Zivilgesellschaft dringend geboten. Es kann jedoch nicht darum gehen ungewollt einen Gedenktag für die Täter zu etablieren.
Es sollte vielmehr an die Opfer erinnert werden. So könnte man z.B. an den Todestagen der Opfer im Bundestag in einer aktuellen Stunde derer gedenken und dabei die Gesellschaft und deren staatliche Organe daran erinnern, dass sich derartiges nicht wiederholen darf.
Die Tatsache, dass die Täter von damals gezielt oder zufällig in Zwickau untergetaucht sind, darf nicht dazu führen, die Stadt und ihre Bürger zu stigmatisieren oder gar zu beschuldigen. Zwickau hat keine höhere Verantwortung als die Gesellschaft insgesamt. Aufarbeitung der Hintergründe und Hinterleute obliegt den Ermittlungsbehörden und Geheimdiensten der Bundesrepublik Deutschland und nicht der Zwickauer Stadtverwaltung.
Tristan Drechsel
im Namen der Fraktion

Das schreibt die Presse:                                                                 |Freie Presse – Zwickauer Zeitung | 16. Januar 2021 | Seite 11
                                                                                                           Ratsfraktionen streiten über Aufarbeitung des NSU-Terrors

Im November 2011 wurden die Hintergründe der Verbrechen bekannt. Wie soll die Stadt Zwickau mit dem Jahrestag umgehen?

VON JOHANNES PÖHLANDT

ZWICKAU – Wie hält man es in Zwickau mit dem Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und mit ihrer Aufarbeitung? Das ist seit dem 4. November 2011, als die Rechtsterroristin Beate Zschäpe das als Unterschlupf genutzte Wohnhaus an der Frühlingsstraße in Brand setzte, die Gretchenfrage in der Stadt. Mit Blick auf den nahenden zehnten Jahrestag zeigt sich einmal mehr, dass es dazu unterschiedliche Auffassungen gibt.
Der Haupt- und Verwaltungsausschuss hatte im Dezember die Schaffung einer neuen halben Stelle im Rathaus zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes abgelehnt. Auf Anfrage der „Freien Presse“ verweist CDU/FDP-Fraktionschef Thomas Beierlein auf die aus der Coronakrise resultierenden Sparzwänge. Die Stadtverwaltung rechnet 2021 mit 29,5 Millionen Euro weniger Einnahmen im Vergleich zum Vorjahr. Deshalb müsse man über Einsparungen reden, sagt Beierlein. Nicht beantworten will er die Fragen, wie seine Fraktion zur NSU-Aufarbeitung steht und wie aus ihrer Sicht der Jahrestag im November gestaltet werden sollte.
Die AfD-Fraktion lehnt eine Stellungnahme generell ab. Es handele sich um ein schwebendes Verfahren, heißt es zur Begründung. Damit ist gemeint, dass das letzte Wort mit Blick auf die halbe Stelle noch nicht gesprochen ist. Der Stellenplan der Stadtverwaltung ist Bestandteil des Doppelhaushalts 2021/22, der Ende Februar beschlossen werden soll. Oberbürgermeisterin Constance Arndt (BfZ) hat die Stadträte gebeten, die Entscheidung zu überdenken – und zwar „im Interesse des gesellschaftlichen und demokratischen Zusammenhalts in der Stadt“. Denn die angedachte halbe Stelle, die im Bereich der Gleichstellungs-, Ausländer- und Integrationsbeauftragten angesiedelt werden könnte, solle nicht nur der NSU Aufarbeitung dienen, sondern auch der „Steuerung demokratischer Prozesse“ in Zwickau. „Es wäre schön, wenn auch Zwickau mitmacht bei der Aufarbeitung.“
Auf die Unterstützung ihrer BfZ-Fraktion kann Arndt jedoch offenbar nicht zählen. „Unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten“ halte man die Entscheidung des Ausschusses für richtig, sagt Fraktionsgeschäftsführer Tristan Drechsel. Mit der halben Stelle komme die Verwaltung keiner Pflichtaufgabe nach, noch profitierten Kinder und Jugendliche oder die gesamte Bürgerschaft davon. Laut Drechsel gibt es mit Blick auf den NSU bereits eine beispielhafte Erinnerungs- und Gedenkkultur in Zwickau, an der neben der Stadtverwaltung auch Initiativen, Parteien, Vereine beteiligt seien. Am 4. November sollte an die Opfer erinnert werden, so Drechsel.
Die Fraktion SPD/Grüne/Tierschutzpartei setzt sich dafür ein, dass die halbe Stelle doch noch geschaffen wird. „Trotz aller Notwendigkeit, die stetig wachsenden Personalkosten zu begrenzen, sollte sich die Stadt hier weiter engagieren“, fordert Fraktionsgeschäftsführer Wolfgang Rau. Als Kompromiss sei eine Befristung vorstellbar. Mit Blick auf den Jahrestag hält die Fraktion Veranstaltungen, Aktionen und mediale Aktivitäten für angebracht. „Sich hier zu engagieren, ist Aufgabe der gesamten Stadtgesellschaft“, so Rau. Das Rathaus müsse organisatorische Unterstützung leisten.
Ähnlich sehen das die Linken. „Eine aktive Unterstützung durch die Stadtverwaltung ist unbedingt notwendig“, sagt Fraktionsgeschäftsführer René Hahn. „So kann die Stadt Zwickau ihre Anteilnahme mit den Angehörigen der Opfer zeigen und einen Beitrag leisten, um solchen diskriminierenden Gewalttaten entgegenzuwirken.“ Deshalb müsse die halbe Stelle unbedingt eingerichtet werden.
Die Initiative dazu geht auf die ehemalige Oberbürgermeisterin Pia Findeiß (SPD) zurück. Anlass für die Überlegungen war ein Besuch des Jenaer OBs Thomas Nitzsche (FDP) am Gedenkort für die NSU-Opfer am Schwanenteich im Februar 2020. Die drei Rechtsterroristen stammten aus der thüringischen Stadt. „In Jena beschäftigt sich man sich mit der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen“, berichtet Findeiß. „Es wäre schön, wenn auch Zwickau dabei mitmacht.“
In Jena bereitet der städtische Kultur-Eigenbetrieb Veranstaltungen zum zehnten Jahrestag vor und bezieht dabei viele Partner auch außerhalb der Stadt mit ein. OB Thomas Nitzsche: „Wir sehen das Projekt der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen weiter in der Spur.“